Mittwoch, 3. November 2010

Das Shanghai Writing Program

Dieser Artikel erscheint in Medienpartnerschaft mit dem Deutsch-Chinesischen Kulturnetz www.de-cn.net. Dabei geht es um das Shanghai Writing Program 2010. Im Auftrag des Deutsch-Chinesischen Kulturnetzes führte Li Jianming (李健鸣) ein Interview mit Wang Anyi (王安忆), der Vorsitzenden des Shanghaier Schriftstellerverbands.

Die in China bekannte chinesische Schriftstellerin Wang Anyi wurde 1954 in Nanjing geboren und wuchs in Shanghai auf. Ihr Hauptwerk The Song of Everlasting Sorrow wurde bei der 5. Verleihung des Mao-Dun-Literaturpreises ausgezeichnet und später verfilmt. Seit 2001 ist Wang Anyi Vorsitzende des Shanghaier Schriftstellerverbands. Sie war oft zu Gast in Deutschland und hat dort an Lesungen und Diskussionen teilgenommen.

Können Sie uns erzählen, wie dieses Programm entstanden ist?

So ein Programm schwebte mir schon seit geraumer Zeit vor. 1983 hatte ich meine Mutter - die berühmte, bereits verstorbene Schriftstellerin Ru Zhijuan (茹志鹃) - zu einem internationalen Schriftstellerprogramm an der Universität Iowa begleitet, das von Nie Hualing (聂华苓) und ihrem Mann veranstaltet wurde. Das hat mich damals stark inspiriert. Nach und nach hat die Idee, in Shanghai eine ähnliche Veranstaltung auf die Beine zu stellen, dann Gestalt angenommen, doch die Voraussetzungen haben lange nicht gestimmt. Erst als vor drei Jahren das Führungsgremium des Shanghaier Schriftstellerverbands seine aktive Unterstützung zusagte, konnte mein Wunsch realisiert werden. Wir übernehmen für die ausländischen Autoren die Flugtickets, die Unterkunft und – für zwei Monate – die Lebenshaltungskosten, das sind beträchtliche Ausgaben. Freilich sind wir nun in der Lage, diese Kosten voll und ganz tragen.

Was sind die Ziele dieses Programms?
Wir wollen ausländische Autoren nach Shanghai holen, um ihnen Literatur aus Shanghai und China nahezubringen. Natürlich hoffen wir auch, dass sie etwas von unserer Literatur in die Welt tragen.

Und wie läuft das Programm konkret ab?

Das Programm findet in diesem Jahr bereits zum dritten Mal statt. Im ersten Jahr kamen drei Autoren, im Jahr darauf fünf und nun sind es sieben. Wir haben uns von Anfang an dafür entschieden, die Schriftsteller nicht in Hotels, sondern in chinesischen Wohnvierteln unterzubringen, damit sie ein chinesisches Lebensumfeld kennenlernen können. In den letzten beiden Jahren haben wir durchgängig ein sehr positives Feedback von den ausländischen Autoren erhalten. So haben die Schriftstellerinnen, die im ersten Jahr aus Japan, Kanada und Australien kamen, das Programm nach ihrer Rückkehr von sich aus an andere Schriftsteller weiterempfohlen. Unser Programm wird auch von den chinesischen Konsulaten einiger Länder aktiv unterstützt, unter anderem von denen aus Tschechien, Israel und Schweden.

Die Autoren gestalten ihren Aufenthalt in Shanghai überwiegend selbst, sie müssen lediglich einen Vortrag zu einem von uns vorgegebenen Thema halten und einmal für ein Gespräch mit Studenten der Fudan-Universität zur Verfügung stehen. Im ersten Jahr lautete das Thema „Heimat und Fremde“, im zweiten Jahr „Where do you come from“, es ging also um Heimatliteratur und den Heimatbegriff, und auch darum, das Eigene in Frage zu stellen. In diesem Jahr hingegen lautet das Motto „Stadt und Schreiben“, das berührt vor allem Fragen des Arbeitens und Überlebens von Autoren, die in Städten leben. Denn dieses Jahr findet ja auch die EXPO in China statt, und die steht unter dem Motto „Better City – Better Life“.

Gab es auch Probleme bei der Umsetzung des Programms?


Natürlich. Zunächst bei der Auswahl der Autoren. Unser Projekt ist zwar kein Austauschprogramm, aber wir mussten uns dennoch mit den Kulturinstitutionen anderer Länder in Verbindung setzen, um uns von ihnen Schriftsteller vorschlagen zu lassen. Einige berühmte Schriftsteller lassen sich kaum für eine Einladung gewinnen, denn sie sind furchtbar beschäftigt. Außerdem werden viele Angelegenheiten über Agenten organisiert, was es unmöglich macht, direkten Kontakt mit diesen Autoren aufzunehmen.

Selbstverständlich gibt es auch sprachliche Barrieren, aber die normalen Anforderungen des Alltags, also nach dem Weg zu fragen oder etwas einzukaufen, stellen eigentlich kein Problem dar, denn in Shanghai sprechen viele Leute ein paar Brocken Englisch. Wenn die Autoren Besuche und Besichtigungen machen, an Podiumsdiskussionen teilnehmen oder einen Vortrag halten, stellen wir ihnen stets einen Dolmetscher zur Seite.

Inhaltlich gesehen haben wir in den vergangenen zwei Jahren zu viele touristische Aktivitäten unternommen. Das wollen wir dieses Jahr anders machen. Beispielsweise möchten wir den ausländischen Autoren mehr von den Randgebieten Shanghais zeigen und mit ihnen zum Beispiel Schulen von Wanderarbeiterkindern besuchen, damit sie nicht nur die Entwicklung der Stadt sehen, sondern auch die neuen Probleme, die sich aus dieser Entwicklung ergeben.

Auch die Kommunikation mit ausländischen Kulturinstitutionen kann sich schwierig gestalten, vor allem, wenn es keine regelmäßigen Kontakte gibt.

Welche Auswirkungen hat das Programm in der Gesellschaft?

Einen sehr positiven. Zum einen sind die Studenten der Fudan-Universität äußerst interessiert an den Vorträgen der Schriftsteller und nehmen auch gerne an deren Diskussionsveranstaltungen teil. Aber auch die Shanghaier Autoren profitieren von dem Kontakt mit den ausländischen Schriftstellern. In anderen Ländern gibt es meist keine Schriftstellerorganisationen, und wenn wir ins Ausland reisen, ist es oft sehr schwer, mit echten Schriftstellern zusammenzutreffen. Auch die Shanghaier Medien beteiligen sich aktiv an unserem Programm, so wurde zum Beispiel in der englischen Ausgabe der Shanghai Daily wurde über unsere Aktivitäten berichtet.

Haben Sie neue Pläne für das Programm?

Ja, ich wünsche mir, dass wir in Zukunft den Schwerpunkt auf die Entwicklungsländer legen können und mehr Schriftsteller aus Dritte-Welt-Ländern nach Shanghai einladen.

Sie waren schon in Deutschland, welchen Eindruck haben sie von der deutschen Literatur?

Ich habe zwar keine umfassende kulturelle Bildung genossen, aber die Übersetzungen insbesondere der europäischen Literatur und natürlich auch deutscher Werke haben mich stark beeinflusst. Ich war bereits einige Male zu Besuch in Deutschland, habe auch eine Weile in Bonn gelebt und den dortigen Alltag kennengelernt. Mir ist aufgefallen, dass die Deutschen sehr anti-materialistisch eingestellt sind. Allerdings fand ich das Leben in Deutschland alles in allem etwas dröge.

Eine Frage zum Schluss: Würden Sie uns verraten, woran Sie derzeit arbeiten?

Seit einem halben Jahr schreibe ich an einem neuen Roman. Der Roman spielt in Shanghai und schildert eine Geschichte aus der Ming-Zeit. Ich werde das Buch noch dieses Jahr fertig schreiben.

Wang Anyi, vielen Dank für das Gespräch!

Interview/Text: Li Jianming (李健鸣)
Übersetzung: Julia Buddeberg
Oktober 2010

Links zum Thema
Shanghaier Schriftstellerverband
Tina Uebel Reiseblog
Zum Originaltext

Bildquellen:
Wang Anyi 2005 in Shanghai, Foto: Zhang Peng © ImagineChina
Teilnehmer des „Shanghai Writing Program 2010“ © Schriftstellerverband Shang