Mittwoch, 27. Oktober 2010

10 Fragen an... Chen Danyan

Dieser Artikel erscheint in Medienpartnerschaft mit dem Deutsch-Chinesischen Kulturnetz www.de-cn.net. In der Rubrik „Zehn Fragen an…“ erzählen bekannte Persönlichkeiten des deutschen und chinesischen Kulturlebens über ihre persönliche Verbindung zum jeweils anderen Land. Die Schriftstellerin Chen Danyan erzählt im Interview von ihren Beziehungen zu Deutschland.

Die Schriftstellerin Chen Danyan, Jahrgang
1958, veröffentlichte bereits als Schülerin erste literarische Texte. Von 1978 bis 1982 studierte sie chinesische Literatur an der Eastern China Normal University und arbeitete nach ihrem Abschluss als Redakteurin des Children's Epoch Magazine.

Chen Danyan ist eine der wenigen chinesischen Schriftsteller/innen, die sich vor allem mit Jugendlichen und ihrer Gefühlswelt beschäftigt. Ihre Geschichten und Romane sind in China vielfach mit Literaturpreisen ausgezeichnet worden. Großen Erfolg hatte die deutsche Übersetzung ihres Buches über die Kindheit eines Mädchens in Shanghai während der Kulturrevolution, welches 1995 unter dem Titel Neun Leben: Eine Kindheit in Shanghai in einer Übersetzung von Barbara Wang erschien. Es erhielt mehrere Preise in Deutschland, Österreich und der Schweiz sowie 1997 auch den UNESCO-Preis für Kinder- und Jugendliteratur im Dienst der Toleranz.

Ein weiteres wichtiges Thema für Chen Danyan ist das Reisen. Ihr ausgeprägtes Fernweh führte sie oft nach Europa – 2001 zum Beispiel als Gast des internationalen literaturfestivals berlin – brachte sie aber auch zu einer intensiven Beschäftigung mit ihrer Heimatstadt Shanghai und deren europäischen Einflüssen. Im September 2010 stellte die Schriftstellerin auf Einladung des Konfuzius-Instituts Hamburg im Rahmen der CHINA TIME ihr neues Buch über die Geschichte des Shanghaier Bunds mit seiner Kolonialarchitektur vor. Ein weiterer Termin folgt am 9. November 2010: Chen Danyan ist für die Veranstaltungsreihe China Begegnungen 2010 nach Oldenburg eingeladen.


1) Womit haben Sie sich in der letzten Zeit beschäftigt?

Mit der Fertigstellung eines Reisebuchs, in dem ich zusammen mit meiner Tochter die Notizen von unseren gemeinsamen Reisen verarbeite. Angefangen haben wir mit den Aufzeichnungen, als sie acht Jahre alt war und sie dann aufgehoben, bis in diesem Jahr der Uniabschluss meiner Tochter bevorstand und wir für die Zeit danach über ein Brückenjahr beratschlagten. Da wurde uns bewusst, dass das Reisen sie bei ihrem Heranwachsen begleitet hatte. Und so haben wir den Sommer über die Reisenotizen geordnet und sind nun dabei, ein Buch daraus zu machen; auch um Eltern, die mit ihren Kindern heutzutage auf Reisen gehen, an unseren Erfahrungen aus all diesen Jahren teilhaben zu lassen.

2) Wann und wie kamen Sie zum ersten Mal in Berührung mit Deutschland?

Im Frühling 1992 kam ich zum ersten Mal nach Deutschland, als Gastwissenschaftlerin der Internationalen Jugendbibliothek München. Damals reiste ich durch Deutschland, machte Bekanntschaft mit der deutschen Kultur und schloss Freundschaften, die bis heute andauern.

3) In welcher Weise hat die Begegnung mit Deutschland Ihr Schaffen oder Ihr Leben beeinflusst?

Deutschland ist das erste europäische Land, das ich bereist habe und mit dem ich intensiv in Berührung kam. Dass mein Roman Neun Leben auf Deutsch veröffentlicht wurde, war nicht zuletzt ein Verdienst der deutschen Übersetzerin. Für die deutsche Ausgabe dieses Buches wurde mir ein UNESCO-Literaturpreis verliehen, und in drei deutschsprachigen Ländern erhielt ich dafür erste und zweite Preise. Das hat mich sehr ermutigt.

Durch die Erfahrungen, die ich beim Leben und Arbeiten in Deutschland gemacht habe, wurde mir bewusst, dass ich ein Mensch mit großem Fernweh bin. Also begann ich, jedes Jahr eine Zeitlang in der Welt herumzureisen, wobei ich meistens europäische Länder besuchte. Dadurch wurde mir klar, dass für meine Generation, die ihre Jugend in einer von der Außenwelt isolierten Gesellschaft verbracht hat, die europäische Kultur einen ganz nachhaltigen und weitreichenden Einfluss hatte, sie hat uns tief geprägt, das macht diese Generation geradezu einzigartig.

4) Was war Ihr schönstes Erlebnis in Deutschland?

Bei einem Leseabend in einer Freiburger Buchhandlung fragte mich einmal ein Leser, warum man in meinen Werken so starke Anklänge an die russische Literatur spüren könne. Damals hatte ich das Gefühl, dass dieser deutsche Leser meine Bücher wirklich verstanden und die Stimmung wahrgenommen hatte, die meine persönlichen Erfahrungen und die Lesevorlieben meiner Jugend in meinen Werken hinterlassen haben. Die selbe Frage hat mir bisher nur einer meiner Kommilitonen an der Universität, der später der Lektor meiner Bücher wurde, gestellt. An jenem Abend merkte ich, dass auch deutsche Leser mir sehr nahe sein können.

5) Was war Ihr unerfreulichstes Erlebnis in Deutschland?

Als ich mich in Berlin mit meinem Freund gestritten hatte und mich deswegen alleine auf den Heimweg machte. Ich nahm den falschen Ausgang in der U-Bahn und verirrte mich prompt. Damals habe ich mich sehr einsam gefühlt.

6) Haben Sie eine deutsche Lieblingsspeise?

Kalte Frikadellen mit Schwarzbrot.

7) Was ist für Sie „typisch deutsch“?

Die so eigenwilligen und ernsten Denkfalten in der Region zwischen den Augenbrauen, dieser ernste und grüblerische Gesichtsausdruck.

8) Welche Kulturleistung aus Deutschland beeindruckt Sie am meisten?

Die ernsten Themen in der Literatur.

9) Mit wem in Deutschland würden Sie gerne einen Tag tauschen?

Mit einem Kellner in einem Kaffehaus in Berlin-Mitte. Dort habe ich an meinen Büchern geschrieben, Freunde getroffen, gegessen, mir Notizen gemacht, Journalisten Interviews gegeben und meine Gefühle und Gedanken geordnet. Kurzum, für mich war die Zeit, die ich dort reichlich verbracht habe, sehr sinnvoll. Die Geräuschkulisse in diesen Kaffehäusern ist mir vertraut, und ich liebe ihre Kartoffelsuppe. Ich habe mir immer ausgemalt, selbst als Bedienung zu arbeiten, eine lange, schwarze Kellnerschürze zu tragen, lässig und flott zugleich. In diesem Job wäre ich ganz zuhause.

10) Welche Gewohnheit oder Idee aus Deutschland würden Sie gerne in China übernehmen?

Dass man abends auch mal etwas ganz Einfaches essen kann.